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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 28.11.2006
Aktenzeichen: 4 OBL 106/06
Rechtsgebiete: StPO, GG
Vorschriften:
StPO § 120 | |
StPO § 121 Abs. 1 | |
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2 |
4 Ws 537/06 OLG Hamm 4 OBL 106/06 OLG Hamm
Beschluss
Strafsache
gegen H.-J. J., zur Zeit in Untersuchungshaft in der JVA Bielefeld-Brackwede I, Umlostraße 100, Bielefeld,
wegen Betruges,
hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht.
Auf die Vorlage der Akten zur Entscheidung nach §§ 121, 122 StPO hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 28. November 2006 durch die Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und des Angeklagten bzw. seines Verteidigers beschlossen:
Tenor:
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Warburg vom 17. November 2006 (Aktenzeichen 9 Ls 321 Js 386/06 - 92/06 -) wird aufgehoben.
Gründe: I. Der Angeklagte ist in der vorliegenden Sache aufgrund des Haftbefehls des Amtsgericht Warburg vom 19. Mai 2006 am 26. Mai 2006 festgenommen worden und befindet sich seitdem in dieser Sache ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die Untersuchungshaft dauert damit seit nunmehr über sechs Monaten an.
Dem zwischenzeitlichen Ermittlungsstand entsprechend ist der Haftbefehl vom 19. Mai 2006 durch den erweiterten Haftbefehl des Amtsgerichts Warburg vom 17. November 2006 (Aktenzeichen 9 Ls 321 Js 386/06 - 92/06 -) ersetzt worden. Dieser neue, auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützte Haftbefehl ist damit die Grundlage des vorliegenden Haftprüfungsverfahrens.
Dem einschlägig vorbestraften Angeklagten wird nunmehr zur Last gelegt, im Mai 2006 in Warburg und München sich in vier Fällen des Betruges schuldig gemacht zu haben. Er soll letztlich am 02. Mai 2006 durch Vorspiegelung seiner Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft erreicht haben, dass der Zeuge Dr. zwei Wechsel über 13.000 EUR und 2.000 EUR ausstellte und an vom Angeklagten bezeichnete Personen, denen der Angeklagte Geld schuldete, herausgab. Der Zeuge Dr. soll auf die Redlichkeit des mittellosen Angeklagten vertraut haben, von ihm das Geld zurückzuerhalten. Bei zwei weiteren Gelegenheiten soll der Angeklagte im Mai 2006 in München die Auszahlung zweier Darlehen über 3.700 EUR und 200 EUR durch Täuschung erreicht haben. Am 26. Mai 2006 soll er sich dann in einem Münchener Hotel unter falschem Namen eingemietet haben und die entstandenen Aufenthaltskosten in Höhe von 2.000 EUR schuldig geblieben sein. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Darstellung im Haftbefehl vom 17. November 2006 Bezug genommen.
Nach Eingang der Anklagen hat der Vorsitzende des Schöffengerichts beim Amtsgericht Warburg am 12. bzw. 18. Juli 2006 deren Zustellung angeordnet. Mit Beschlüssen vom 26. Juli 2006 sind die Hauptverfahren vor dem Schöffengericht eröffnet und miteinander verbunden worden. Gleichzeitig ist als Termin zur Hauptverhandlung der 31. August 2006 bestimmt worden.
Mit Verfügung vom 24. August 2006 hat das Schöffengericht "aus innerdienstlichen Gründen" den Verhandlungstermin aufgehoben. Ein Termin zur Hauptverhandlung ist seitdem nicht bestimmt worden.
Der Angeklagte hat bereits anlässlich der Verkündung des Haftbefehls am 27. Mai 2006 bei der Ermittlungsrichterin die erste Tat gestanden und darum gebeten, wegen seiner seelischen Erkrankung (Medikamenten- und Alkoholmissbrauch) fachärztlich in einer Psychiatrie untersucht zu werden. Er habe die Tat "mit zugedröhntem Kopf" begangen. Aufgrund zweier Schreiben des Angeklagten vom 28. Mai 2006, mit denen er seine Verlegung in ein psychiatrisches Krankenhaus und die Einholung eines fachpsychiatrischen Gutachtens beantragte, hat der Ermittlungsrichter daraufhin eine ärztliche Stellungnahme des Leiters der JVA Bielefeld-Brackwede I zur Haftfähigkeit des Angeklagten eingeholt. Mit Schreiben vom 07. Juni 2006 hat der Anstaltsarzt der JVA Bielefeld-Brackwede I mitgeteilt, dass Haftfähigkeit bestehe. Die vom Angeklagten vorgebrachten Magen- und Verdauungsbeschwerden seien nicht nur durch die bekannten Vorerkrankungen bedingt, sondern auch durch ein extremes Ess- und Trinkverhalten, welches in einer schweren, nicht mehr therapierbaren Persönlichkeitsstörung begründet liege, ebenso wie der vorhandene Schmerzmittel- und Benzodiazepinabusus.
Mit handschriftlichen Schreiben vom 30. Juli 2006 wies der Angeklagte wiederum auf seine psychiatrische Erkrankung hin und bat eindringlich um eine Verlegung in eine Landesklinik.
Sein Verteidiger hat dem Schöffengericht am 01. August 2006 in Ergänzung der bisherigen Einlassung u.a. ärztliche Unterlagen des Helios Klinikum in Siegburg vom 11. April und 29. Mai 2006, in der sich der Angeklagte zeitweise zur Behandlung befand, vorgelegt, aus denen sich die Diagnose "akute Intoxikation bei Polytoxikomanie" als Aufnahmegrund ergibt. Eingehend hat sich der Verteidiger mit dem psychischen Zustand des Angeklagten im Tatzeitraum befasst und beantragt, den Haftbefehl in einen Unterbringungsbefehl umzuwandeln und die psychiatrische Begutachtung des Angeklagten in Hinblick auf die §§ 20, 21 StGB zu veranlassen.
Am 14. August 2005 hat das Schöffengericht Kenntnis von einer weiteren Anklage gegen den Anklagten erhalten, die von der Staatsanwaltschaft Bonn unter dem 25. Juli 2006 u.a. wegen zahlreicher Betrugsfälle im Zeitraum August 2005 bis Mai 2006 beim Schöffengericht Siegburg erhoben worden ist.
Der Vorsitzende, der aufgrund seiner eingeschränkten Strafgewalt Zweifel an seiner sachlichen Zuständigkeit hegte, hat daraufhin am selben Tag eine Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Paderborn zu den Anträgen der Verteidigung eingeholt. Entgegen der Anregung der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht nach Rückkehr der Akten am 24. August 2006 den Hauptverhandlungstermin aufgehoben.
Mit Verfügung vom 04. September 2006 hat der Vorsitzende die Versendung der Akte an das Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg, in dem sich der Angeklagte seit dem 16. August 2006 befand, angeordnet, welches er um gutachterliche Stellungnahme zu den Anträgen des Angeklagten und der Verteidigung auf Umwandlung des Haftbefehls in einen Unterbringungsbefehl bat. Auf eine Erinnerung des Angeklagten hin hat der Vorsitzende des Schöffengerichts ihm am 26. September 2006 mitteilen lassen, dass er eine gutachterliche Stellungnahme der Ärzte des JVK angefordert habe, nach deren Eingang er über die Anträge entscheiden werde.
Erst auf erneutes Hinwirken des Angeklagten und des Verteidigers sowie nach dem Hinweis der Staatsanwaltschaft auf den drohenden Ablauf der 6-Monatsfrist hat das Gericht am 06. November 2006 telefonisch mit dem leitenden Arzt Dr. Ri. des JVK Rücksprache gehalten. Im Vermerk über das Telefongespräch hielt der Vorsitzende fest, dass man sich in der Klinik kurzfristig um eine gutachterliche Stellung anhand der dort vorhandenen Krankenunterlagen kümmern werde.
Einen Tag später hat das Schöffengericht die Haftfortdauer beschlossen und die Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht zum Zwecke der Haftprüfung angeordnet.
Auf nicht nachvollziehbare Weise ist später im November 2006 bei dem Amtsgericht Warburg ein Schreiben des Leiters des Justizvollzugskrankenhaus vom 04. Oktober 2006 eingegangen, in dem dieser erklärt, keine Stellungnahme abgegeben zu können, da die Einrichtung nur mit der Akutversorgung von Gefangenen befasst sei.
Erst auf Anregung der Staatsanwaltschaft hat das Schöffengericht sodann am 17. November 2006 dem psychiatrischen Sachverständigen Dr. Ba. einen Gutachtenauftrag erteilt und den Haftbefehl entsprechend der Anklagen neugefasst. Das Ergebnis der Begutachtung durch den Sachverständigen liegt dem Senat bei der Beschlussfassung - wie zu erwarten war - noch nicht vor.
II. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Warburg vom 17. November 2006 ist aufzuheben, weil die Voraussetzungen, unter denen die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus gemäß § 121 Abs. 1 StPO angeordnet werden kann, nicht vorliegen.
Zwar ist der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Taten dringend verdächtig, auch hat das Amtsgericht zu Recht den Haftgrund der Fluchtgefahr angenommen.
Weder die besondere Schwierigkeit noch der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO rechtfertigen aber die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft, denn das Verfahren ist nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden. Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass der verfassungsrechtliche Freiheitsanspruch (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) eines noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist und sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. BVerfGE 20, 45, 49 ff.; 36, 264; 53, 152, 158 ff.). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Erlass eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen, und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO, die eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus somit nur in begrenztem Umfang zulässt, ist dementsprechend eng auszulegen (vgl. BVerfGE 36, 264, 271; 53, 152, 158 ff.). Den verfassungsrechtlichen Ansprüchen an die Zügigkeit der Bearbeitung in Haftsachen wird nur dann entsprochen, wenn die Strafverfolgungsbehörde und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (s. BVerfGE 20, 45, 50.; NJW 2003, 2195, 2196; OLG Hamm, StV 2000, 90, 91; OLG Brandenburg, StV 2000, 37; OLG Köln, StV 1999, 40; OLG Düsseldorf, NJW 1996, 2587; OLG Frankfurt, StV 1995, 423).
Diesen Erfordernissen wird die Sachbehandlung durch den Vorsitzenden des Schöffengerichts im vorliegenden Verfahren nicht gerecht. Zu beanstanden sind hier die Versäumnisse des Schöffengerichts im Zusammenhang mit der Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zur Schuldfähigkeit des Angeklagten und zur Frage einer möglichen Unterbringung gem. §§ 64, 63 StGB. Die Sachbehandlung durch den Vorsitzenden des Schöffengerichts stellt keine dem Gesetz genügende und der Beschleunigung dienende Verfahrensförderung dar.
Bereits aufgrund des Schreibens des Anstaltsarztes der JVA Bielefeld-Brackwede I zur Haftfähigkeit des Angeklagten, jedenfalls jedoch mit Eingang der ersten Anklage, hätte sich dem Vorsitzenden des Schöffengerichts aufdrängen müssen, zur Frage der Schuldfähigkeit und der Unterbringung zwingend ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einholen zu müssen. Hierfür spricht zum ersten, dass sich der Angeklagte unter Hinweis auf seine Abhängigkeitserkrankung verteidigt hatte. Bei sorgfältigen Aktenstudium hätte der Vorsitzende dies nicht nur dem Protokoll anlässlich der Haftbefehlsverkündung entnehmen können, sondern auch den zahlreichen nachträglich verfassten Eingaben an das Gericht. Zum zweiten ergibt sich aus dem der Akte beigefügten Bundeszentralregisterauszug, dass gegen den Angeklagte wegen einschlägiger Taten schon früher im September 1991 die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und vollzogen worden war. Den dritten Hinweis auf eine Abhängigkeitserkrankung enthält die Stellungnahme des Anstaltsarztes der JVA Bielefeld-Brackwede I vom 07. Juni 2006, der beim Angeklagten eine bekannte, nicht mehr therapierbare Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. Als dann der Verteidiger mit Schriftsatz vom 01. August 2006 noch ein ausführliches Entlassungsschreiben des Helios-Klinikum Siegburg vorgelegt hat, wonach der Angeklagte mit der Diagnose "akute Intoxikation bei Polytoxikomanie" vom 29. April bis zum 01. Mai 2006 (1. Tatvorwurf: 02. Mai 2006) in stationärer Behandlung war, hätte dies zum Anlass genommen werden müssen, die Schuldfähigkeitsbegutachtung unverzüglich in die Wege zuleiten. Dafür, dass der Anklagte nach seiner Entlassung nicht abstinent lebte, spricht zum einen, dass die Haftrichterin in ihrem Aufnahmeersuchen vom 27. Mai. 2006 an die JVA Bielefeld-Brackwede I ausdrücklich auf bei ihm noch vorhandene Entzugserscheinungen hinwies. Zum anderen dürfte allgemein bekannt sein, dass nur in den seltensten Fällen eine dauerhafte Heilung und Abstinenz Abhängigkeitskranker lediglich aufgrund einer durchgeführten Entgiftung zu erreichen ist. Bei der Terminsvorbereitung waren folglich für den Vorsitzenden zahlreiche Gesichtspunkte erkennbar, die für die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten sprechen. Eine mögliche Verminderung seiner Schuldfähigkeit im Tatzeitraum dürfte danach zumindest nicht fern liegend und demgemäß aufzuklären sein.
Dieser schwerwiegende Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot kann weder dadurch gerechtfertigt werden, dass zuvor eine Stellungnahme des Leiters des Justizvollzugskrankenhaus eingeholt werden sollte. Dieses Vorgehen, das das Verfahren allein um zwei Monate verzögert hat, war wenig sinnvoll, da - wie der Leiter der Einrichtung richtig bemerkt - dort nur die Versorgung akut kranker Gefangener durchgeführt wird. Eine Bearbeitungsdauer von zwei Monaten hierfür ist unvertretbar. Noch ergibt sich eine andere Betrachtungsweise aus dem zeitgleich von der Staatsanwaltschaft Bonn geführten Ermittlungsverfahren. Denn eine - von dem Vorsitzenden noch nicht einmal betriebene - Verfahrensübernahme hätte keinen zeitlichen Einfluss darauf gehabt, den Gutachtenauftrag zum frühestmöglichen Zeitpunkt erteilen zu müssen.
Ausgehend von diesen Überlegungen hätte bereits die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft die Einholung eines Schuldfähigkeitsgutachten veranlassen müssen, wenn ihr - was erforderlich gewesen wäre - die Stellungnahme des Anstaltsarztes der JVA Bielefeld-Brackwede vom 07. Juni 2006 zur Kenntnis gebracht worden ist.
Sollte die Information nicht erfolgt sein, wäre auch das ein der Justiz anzulastendes Versäumnis des Ermittlungsrichters. Der Vorsitzende des Schöffengerichts hätte spätestens nach Eingang der ersten Anklage im Juli 2006 den Gutachtenauftrag erteilen müssen und das Verfahren innerhalb der 6-Monatszeitraum abschließen können.
Aufgrund der erheblichen Verzögerungen des Verfahrensabschlusses, der seinen Grund im Bereich der Justiz hat, ist eine Haftverlängerung über sechs Monate hinaus nicht gerechtfertigt. Der Senat muss daher nach den §§ 121, 122 StPO den Haftbefehl aufheben.
Ende der Entscheidung
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